„Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“, ist der Titel des 2008 erschienen Buches des Philosophen und Publizisten Richard David Precht. Darin erörtert er grundlegende Fragestellungen zum menschlichen Bewusstsein und Verhalten. Nein, ich habe das Buch nicht gelesen. Aber der Titel ist so geläufig, dass er mir – mehr oder weniger als Gegenentwurf – zum Leitthema des heutigen Evangeliums – eins sein / Einheit – eingefallen ist.
Ich verbinde den Titel mit dem Persönlichkeitsmodell „Inneres Team“, das der Psychologe Friedemann Schulz von Thun entwickelt hat: Wenn wir in uns hineinhorchen, werden wir in der Regel feststellen, dass wir selten wirklich eins mit uns selbst sind. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, formuliert Goethe in seinem Faustmythos. „Das Herz sagt: ‚Bleib!‘ Der Kopf schreit: ‚Geh!‘“, singt Joris. Uns prägen Werte, Haltungen, Leitsätze und Meinungen aus von Menschen aus unserem Umfeld, aus Religion, Philosophie, Naturwissenschaft, ... Wir begegnen dem Leben und machen ganz unterschiedliche Erfahrungen. Das greift selten harmonisch ineinander. Im Gegenteil, so geht es zumindest mir, oft genug sind wir hin- und hergerissen. Diese unterschiedlichen Stimmen in uns können wir nach Schulz von Thun verschiedenen inneren Teammitgliedern zuordnen, die zusammen uns ausmachen.
Wenn schon wir selbst kaum eins mit uns sind, wie soll die von Jesus in seinem Gebet geradezu heraufbeschworene und von den Bischöfen gern beschworene Einheit derer, die an ihn glauben, Wirklichkeit werden? Meines Erachtens hilft hier die Idee des „Inneren Teams“ weiter: Die Uneinigkeit der Teammitglieder, in denen sich unsere unterschiedlichen Prägungen, Wertemuster, Erfahrungen und Bedürfnisse widerspiegeln, kommt insbesondere in Entscheidungssituationen zum Tragen. Hier kann dann eine „Teamsitzung“ weiterhelfen, in der die verschiedenen Stimmen identifiziert werden und ihnen unkritisch Gehör geschenkt wird. Jede Position wird zunächst einmal wertgeschätzt. Darauf aufbauend wird dann an der Lösung des Konflikts gearbeitet, bis alle Teammitglieder zustimmen können. Das funktioniert weniger mit Mehrheitsentscheidungen, sondern eher durch Konsent, d.h. alle können zustimmen, der Grad der Zustimmung darf dabei variieren. Die Lösung muss ausreichend gut sein für jetzt und sicher genug, um sie auszuprobieren. Einheit meint hier also nicht Einheitlichkeit, sondern das Miteinander in (berechtigter) Verschiedenheit. In der Gemeinschaft der Glaubenden ist das Fundament dafür im Sinne Jesu die Verbundenheit aller mit ihm. Ziel ist es, glaubwürdig Christus in unserer Gegenwart zu bezeugen und mit ihm am Reich Gottes zu bauen. Katholikentage repräsentieren diese Idee auf ihre eigene Weise, finde ich. Unter dem Dach „katholisch“ tummeln sich dort unterschiedlichste Ausprägungen und tragen das Ihre - in diesem Jahr – zum Motto „leben teilen“ bei. Vielfalt ist hier höchst lebendig.
Der 102. Katholikentag geht diesen Sonntag zu Ende. Anlass, einzustimmen in das Gebet zum Katholikentag:
„Wir bitten dich, Gott,
dein Heiliger Geist begleite und beseele uns.
Gib deinen Geist in die Sprache und Sprachlosigkeit der Kirche.
Gib deinen Geist in das Leben und Miteinander der Menschen am Ort.
Gib deinen Geist allen Christen weltweit und
Frieden zwischen den Religionen und Kulturen.
All unsere Arbeit und Sorge wandle in Segen Ewiger,
lebendiger und Leben teilender Gott. Amen.“
Gesegneten Sonntag und segensreiche Woche wünscht
Inga Schmitt
SonntagsImpulse.de